Dienstag, 29. Dezember 2015

Jakobsweg 2006/way of st. james 2006 (Leon - Santiago de Compostela) - Part II


Pilgern/Pilgrimage

Unsere Vermutung bestätigt sich heute - der vergangene Tag war ein regionaler Feiertag. Und weil dieser eigentlich auf einen Sonntag gefallen ist, wird er einfach auf einen Montag verschoben - geschickt die Iberer sind!

Wir schreiben den 25.April 2006 und heute beginnen wir nun wirklich, auf dem Jakobsweg zu laufen.
Wir pilgern nicht im klassischen Sinn, sind wir doch nicht katholischen Glaubens und auch keiner anderen Religion verpflichtet.




Das Ziel ist der kleine Ort San Martin del Camino und wir laufen entlang der Straße. 

Der erste Teil des Weges bedeutet aber erst einmal die Stadt Leon hinter sich zu lassen. So begeben wir uns, den Reiseführer auf der entsprechenden Seite aufgeschlagen, durch die Stadt.
Im Zentrum, wie schon angedeutet, ist es kein Problem der richtigen Route zu folgen. Wir folgen einfach den Muscheln am Boden. Als wir dann aber das Zentrum verlassen haben, stellen sich erste Orientierungsprobleme ein. 

Irgendwie stimmt die Beschreibung in der 'Fachliteratur' nicht mit der Realität überein und auch Fragen an vorbeieilende Passanten helfen nicht wirklich.
Bald erkennen wir jedoch, dass man sich auf dem Camino, wie auch im Straßenverkehr, einfach nur vorausschauend bewegen muss. Auf diese Weise nehmen wir die richtungweisenden gelben Pfeile war, die an Häuserwände, an Laternenmasten oder einfach nur auf dem Fußweg aufgemalt sind.



 
Und so zieht sich der Marsch aus dieser doch recht großen Stadt elend lang hin.  
Es ist die Erkenntnis, dass die Passage von Städten immer mit einer entsprechenden Qual verbunden ist - aber wenn schon einen Pilgerweg gehen, dann wollen wir uns auch den Regeln eines solchen Weges unterwerfen. 
Über Eisenbahnschienen, entlang öder, von kleinen Geschäften gesäumter Straßen, durch ein Industriegebiet, gipfelt der Weg im Unterqueren eines überdimensioniert erscheinenden Autobahnkreuzes. 

Es ist schon etwas kurios - um Mobilität zu gewährleisten, werden riesige Straßenbauprojekte forciert und gleichzeitig wird viel Geld ausgegeben, damit die Pilger ihren Weg ungehindert fortsetzen können.
In Deutschland werden unter sehr stark befahrenen Straßen so genannte Krötentunnel angelegt. Warum nur fällt mir gerade dieses Gleichnis ein?

Irgendwann haben wir Leon verlassen und der Weg verläuft entlang einer mäßig befahrenen Straße, die in gerader Linie zum Horizont zu führen scheint. Es ist kein Ende zu erkennen. 
Es ist eine karge Landschaft, die wir durchqueren. Kaum Bäume, nur Büsche und rote Erde. 

Der Himmel zeigt sich wolkenlos und die Sonne verbrennt uns auf der linken Seite. Das ist kein Wunder, schließlich laufen wir von Ost nach West!
Irgendwann erscheint am fernen Horizont ein Wasserturm, welcher nur sehr, sehr langsam größer wird. Unser Ziel nähert sich in verstörender Langsamkeit! 

In der größten Hitze des Tages erreichen wir endlich die Herberge, über deren Eingang eine stilisierte, große gelbe Muschel auf blauen Untergrund prangt und wir sind glücklich, die ersten 24 Kilometer absolviert zu haben.




Wir verstehen nicht, was uns die Herbergsmutter zu vermitteln versucht. Wir wollen einfach nur unsere Füße von den zentnerschweren Schuhen befreien und freuen uns riesig über den ersten, wirklich erlaufenen Stempel im Pilgerpass. Dass die Unterkunft nur 7 Euro pro Person kostet, nehmen wir allenfalls im Unterbewusstsein wahr.

Aber irgendetwas will uns Ana, die Herbergsmutter, noch zu verstehen geben. Spanisch haben wir nicht wirklich versucht zu lernen und so sind wir über die Hilfe von einer Frau, die bereits unterm Sonnenschirm entspannt, sehr dankbar. Sie beherrscht die Sprache perfekt und so können wir uns doch noch über das Abendbrot und den Zeitpunkt dessen Einnahme einigen.

Dann können wir endlich unsere Schuhe ausziehen und die heiß gelaufenen Füßen auf die herrlich kühlen Bodenfliesen setzen. Eigentlich müsste es jetzt zischen! Es ist ein Wohlgefühl!

Meine Füße sind ok, aber die meiner Begleiterin sehen furchtbar aus. Zahlreiche große Blasen haben darauf ihren Platz gefunden. 

Das Schuhwerk passt also doch nicht so - erhebliche Schmerzen sind die Folge. Womit das Schicksal dieser Fußbekleidung besiegelt ist. 
Etwas Trost spendet das Zwei-Bett-Zimmer - für den Schlafraum sind wir noch nicht bereit, haben aber auch keine Chance, denn das Zimmer bekommen wir zugewiesen.

Wir sind auch froh, trotz aller Anstrengungen so zeitig in der Unterkunft angekommen zu sein, denn es gibt für Männlein und Weiblein nur je eine Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken! Bevor die Herberge sich recht schnell füllt, sind wir mit unserer Toilette fertig!
Wir können noch nicht ahnen, dass die meisten der Herbergen mit dieser Art Engpass versehen ist!

Und was macht man an einem heißen Nachmittag, in einem Ort, der kein Highlight zu bieten hat - man sitzt, trinkt ein oder zwei Bier und kommt mit den anderen Pilgern ins Gespräch. Wir suchen dieses bevorzugt mit Heide, welche auch aus Deutschland stammt und bereits einige Erfahrungen auf diesem Weg gesammelt hat. 



Gegen 18:00 Uhr gibt es das Pilger-Menü. Eine Knoblauchsuppe mit Weißbrot, Schnitzel mit Pommes, eine Ananasscheibe als Dessert und natürlich Wein. Zum Verdauen werden drei verschiedene Arten von Likör auf den Tisch gestellt. Wahnsinn!

Wir haben angenehme Tischnachbarn – Heide aus München und Manfred mit seiner finnischen Frau aus Stuttgart. Die beiden sind schon Pensionäre und mit dem Fahrrad unterwegs.


Einzig den Gästen am Nachbartisch sind die Getränke offensichtlich nicht bekommen, wie wir in unserem Zimmer später zu hören bekommen.

Die Nacht ist sehr unruhig, denn unser Zimmer grenzt unmittelbar an die Herrentoilette.

Nun, dies war doch ein recht detaillierter Bericht vom ersten Tag auf diesem Weg. Und ich werde mich hüten, die Zeit bis zur Ankunft in Santiago ähnlich zu beschreiben, sind sich die Tage doch im wesentlichen gleich.
Spätestens am dritten Tag ist klar, dass sich die Situation in den Herbergen sehr ähnelt. Da machen die privaten Unterkünfte wenig Unterschied zu den kommunalen. Von Vorteil ist es also, relativ zeitig seine Unterkunft zu erreichen, um sich entspannt den Staub der Straße und den Schweiß vom Körper spülen zu können. 
Da wir, und das ist völlig ausreichend, nur zwei Garnituren mit uns tragen, unterziehen wir die Klamotten einer Handwäsche. Unter der Sonne Spaniens ist das kein Problem, trocknet die Funktionswäsche rasch.

Auch für den Morgen gilt es einen Rhythmus zu finden, mit dem man leben kann. Knackpunkt sind wiederholt die sanitären Einrichtungen. Und so kommt nur ein sehr zeitiger Start in Frage oder man wartet eben ab, bis sich das Gros der Pilger bereits auf dem Weg befindet.


Das Ziel der nächsten Etappe (26.04.)ist Astorga. Hier bekommen wir Unterstützung durch Heide, müssen wir doch neue Schuhe und einen etwas leichteren Schlafsack erwerben. 
So findet sich keine Zeit den von Gaudi entworfenen Bischofspalast zu besuchen. Aber am Abend kehren wir im ersten Haus am Platz ein und genießen zu dritt ein paar sehr leckere Tapas.

Von Astorga laufen wir am dritten Tag nach Rabanal und passieren in einem der Dörfer eines der wohl meist fotografierten Motive dieses Weges.


Wir begegnen einer Familie aus Deutschland. Sie sind zu fünft unterwegs. Die beiden größeren Kinder, drei und vier Jahre, rollen fröhlich auf einem Laufrad nebenher, während das dritte Kind auf dem Gepäck eines etwas überdimensionierten Fahrradanhängers vom Papa gezogen wird. Die Mutter trägt zusätzlich einen größeren Rucksack. 
Auch sie wollen Santiago erreichen und es stellt sich die Frage, weshalb man sich und auch seinen Kindern eine derartige Tortur antun muss.

In Rabanal sind wir entsprechend zeitig, aber die favorisierte Herberge hat noch nicht geöffnet. 
Es gibt eine Planänderung und wir beziehen eine Herberge unmittelbar vor dem Ort. 
Hier werden wir nun das erste Mal mit der Realität konfrontiert - etwa 60 Doppelstock-Betten und zwei Duschen und zwei Toiletten!


Während wir versuchen, den Nachmittag über die Runden zu bringen, erscheinen 6 ältere Damen aus Frankreich. Das mitgeführte Gepäck können sie unmöglich eine ganze Etappe getragen haben und richtig, wir erfahren von weiteren Pilgern, dass die 'Mädels' sich chauffieren lassen und erst vor der Unterkunft abgesetzt werden.
Auch blockieren sie sehr schnell die kleine Küche und da zu befürchten ist, dass dies auch am kommenden Morgen der Fall sein könnte, beschließen wir einen sehr zeitigen Start.

Im Dunkeln, kurz vor Sonnenaufgang, sind wir startbereit. Keine Zeit für uns, aber wir haben unsere Dinge bereits erledigt, als das Leben in der Herberge anbricht - es ist eine gute Entscheidung gewesen.

Über das verlassene Dorf Foncebadon erreichen wir das 'Eiserne Kreuz'. Unterwegs werden wir von einem älteren Paar überholt und wir erfahren, dass die beiden aus Australien sind.
ich kämpfe mit ein paar gesundheitlichen Problemen, welche uns dazu zwingen bereits in El Acebo wieder Halt zu machen.

In der Herberge an den Garderobenhaken der Betten hängen bereits sechs identische Basecaps. Im angeschlossenen Restaurant finden wir auch die Besitzer dieser Kopfbedeckungen vor - eine Familie aus Frankreich. Der Vater, die vier Kinder und die sichtbar schwangere Frau.
Das diese Familie jedes Jahr nur 7 Tage auf dem Jakobsweg unterwegs ist, lässt es nicht weniger verrückt erscheinen.

Von Ponferrada trennen uns nur 16 Kilometer - entsprechend zeitig sind wir bei der ziemlich großen kommunalen Herberge, die etwas vor der Stadt liegt. Unterwegs treffen wir wieder auf das ältere Paar aus Australien.

Wir sind nicht die ersten, die im Vorgarten der Herberge Position beziehen. Alle müssen warten, denn die Herberge öffnet erst 15 Uhr. Ausreichend Zeit sich mit ein paar Lebensmitteln einzudecken und im nahen Internet-Café seine elektronische Post zu erledigen.

Überraschenderweise sind die Zimmer recht klein und nur für 4 Personen ausgelegt. 
Wir bekommen einen älteren Mann und eine jüngere Frau auf 'Bude'. Es stellt sich heraus, dass es Vater und Tochter sind und wir werden mit der Globalisierung konfrontiert.
Vater Paul ist Journalist in Kanada, seine Tochter Emily arbeitet irgendwo in England in einem Museum. Es wird ein angenehmer Abend.

Villafranca del Bierzo ist unser nächstes Etappenziel. Dieser Ort wird auch als Klein-Santiago bezeichnet, bekamen die in ihrer Gesundheit erheblich angeschlagenen Pilger, die es offensichtlich nicht bis zum Ziel schaffen würden, bereits hier ihre Compostela.

Aber bis wir unser Ziel erreichen konnten, passierten wir die herrliche Gegend des 'Del Bierzo', welche dem Rotweinkenner sicher ein Begriff ist. Durch hügeliges Gelände, vorbei an zahllosen Rebstöcken gelangen wir zum Etappenziel, einer wahrlich alten Herberge. 
Den Tag verbringen wir im Ort, der klare Zeichen der Vergangenheit zeigt. Die Gebäude in den schmalen Gassen sind ehemalige Hospitäler. Und auch eine kleine Burg zum Schutze der Pilger erbaut, ziert noch immer das Stadtbild. Von der Kirche ganz abgesehen. 

Hier treffen wir wieder auf Emily und Paul und genießen dieses Wiedersehen. Die Abendsonne wird für gemeinsame Fotos genutzt - nicht ahnend, dass wir den Beiden nicht mehr begegnen werden.
Zu guter Letzt und später Stunde erscheint doch tatsächlich auch noch die deutsche Familie mit ihrem Karren und den drei kleinen Kindern. Irre!
     
Es ist der 01. Mai und es stehen zwei Wege zur Auswahl. Uns schreckt der empfohlene, aber als etwas länger und steiler beschriebene 'Camino duro' (Harter Weg) ab und so laufen wir entlang der Straße. Ein fürchterliches Stück, wenn nicht gar das schlimmste. Der vorausgesagte starke Verkehr auf der Straße bleibt zwar aus - liegt womöglich am 01. Mai oder auch an der Umgehungsstraße, die mittlerweile gebaut wurde - aber zwei Drittel der Etappe verlaufen auf Asphalt direkt neben der Straße, nur durch eine kleine Betonabsperrung vorm Verkehr geschützt. Es ist die Hölle! Asphalt laufen sowieso!

Ein wirklicher Trost ist es nicht, als es endlich wieder auf einem nahezu originalen Weg über Stock und Stein hinauf nach La Faba geht - wir erreichen recht zeitig die Herberge. 
Die nächste Unterkunft ist in O Ceibreiro, in Galizien und wird vom Pilgerführer nicht empfohlen. Die anvisierte Herberge wird von einem deutschen Pilgerverein betreut und vermittelt einen kleinen aber feinen Eindruck.

Es gilt etwas Zeit totzuschlagen, werden wir doch recht resolut darauf hingewiesen, dass die Herberge erst ab 15 Uhr geöffnet wird.
Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint - man kann es wartender Weise aushalten und die zunehmende Schar weiterer Pilger begrüßen. 
Auch ist die kleine Herberge auf einer Anhöhe erbaut und erlaubt einen schönen Blick in die bergige Landschaft.

Es sind vornehmlich deutsche Pilger die hier übernachten möchten. Überlegungen, ähnlich den unsrigen, scheinen dafür den Ausschlag zu geben.

Die Situation kann man durchaus mit der Anfangssequenz von 'Spiel mir das Lied vom Tod' vergleichen, ist doch jeder auf seine Art bemüht die Zeit bis zur Öffnung herumzubringen.



Mit uns warten Matthias aus Rostock - für drei Frauen ist das Warten einfach zu lang und sie ziehen weiter.
Es folgen Ariane, Tilo, der bereits seit den Pyrenäen unterwegs ist, und zwei weitere junge Männer aus Deutschland - Dennis und Christopher.
Die beiden sind bei ihrer Ankunft wahrlich abgekämpft, schleppen sie doch bestimmt zwanzig Kilo auf dem Rücken mit sich. 
Sie wollen am Meer noch campen und Party machen, lautet ihre Erklärung für ihr umfangreiches Gepäck.

Es ist eine angenehme Gruppe und wir beschließen gemeinsam zu kochen. Ariane trägt ein paar Eierteigwaren mit sich und den Rest erwerben wir im 'Tante-Emma'-Laden des Ortes.


Unter freiem Himmel und der Gesellschaft eines Esels genießen wir unser Mahl bei guter Stimmung.

Unter dem sehr aufmerksamen und kritischen Blick der 'Herbergsmutter' stellen wir den Ausgangszustand in der Küche wieder her.

Seit Start ist erst eine Woche vergangen und heute fällt es wirklich das erste mal schwer, den Rucksack zu schultern und los zu laufen.

Während Tilo weit ausschreitend seine Etappe in Angriff nimmt, geht Ariane es weitaus gemütlicher an und bleibt hinter uns zurück.
Vor uns liegen ca. 25 Kilometer und die spanische Provinz Galizien. Mit deren Erreichen wird uns Regen vorausgesagt, ist sie doch dem Wetter des Atlantiks ausgesetzt.
Christopher und Dennis haben beschlossen, ihr Gepäck im nächsten Ort Triacastela zu reduzieren und den größten Teil davon postlagernd nach Santiago zu senden.


O Cebreiro lassen wir schnell hinter uns und registrieren im Vorbeigehen noch den grauen Klotz, welcher als Pilgerherberge dient. Es war eindeutig die richtige Entscheidung in La Faba zu übernachten!

Etwas später passieren wir eine Skulptur, die einen sich gegen das Wetter stemmenden Pilger darstellt. Ein Dämpfer in unserem Pilger-Enthusiasmus erhalten wir, als wir eine Gruppe Pilger überholen. Mit winzigen kleinen Rucksäcken auf dem Rücken sind einige im feinen Zwirn (gelber Lacoste-Pullover) und leichtem Schuhwerk unterwegs. Es sind Deutsche auf Pilgerreise!
Es wird der Begriff 'Ausdruckspilger' geprägt - um die Verwendung dieses Begriffes werde ich am Abend noch um Erlaubnis gebeten.

Als dies geschieht, sitzen wir gemeinsam mit Matthias, Dennis und Christopher in einem Lokal. Wir sind unabgesprochen in der gleichen Herberge untergekommen und freuen uns darüber riesig.
Es macht einfach Spaß, bekannte und angenehme Gesichter wiederzusehen und das Gespräch vom Vorabend fortsetzen zu können.

Das ist es, was diesen Weg wohl ausmacht - man kann sich in der  Zeit des Laufens ungestört seinen Gedanken hingeben und am Abend ins Gespräch mit weiteren Pilgern kommen. Man kann, man muss aber nicht. Und wenn es sich ergibt, läuft man eben ein Stück gemeinsam - eben solange, wie es angenehm ist.

Und so treffen wir die Drei auch in Sarria und in Portomarin wieder.
Ab Sarria nimmt die Anzahl der Pilger erheblich zu, denn es trennen den Pilger von seinem Ziel Santiago nur noch etwas mehr als 100 Kilometer. Da man für die Pilgerurkunde (Compostela) lediglich die letzten 100 Kilometer des Weges mit seinen gesammelten Stempeln nachweisen muss, beginnen ab Sarria besonders viele Spanier auf dem Weg zu laufen.

    
Dann verlieren wir unsere Jungs aus den Augen. Wahrscheinlich sind sie gar nicht so weit entfernt, aber bei einer Geschwindigkeit von etwa 4 Kilometern in der Stunde kann man auch bloß 150 Meter auseinander sein, ohne sich zu begegnen.

In Eirexe ist die nächste Unterkunft, auch eine kommunale Herberge, die einen recht neuen und modernen Eindruck macht. 

Von hier geht es nach Melide, einem der größeren Orte auf der Strecke. Die Herberge ist zwar bereits geöffnet, macht aber einen sehr verwahrlosten Eindruck. Und wenn auch das Motto gilt 'Eine Nacht kann man überall schlafen' haben wir noch ausreichend Zeit und Hoffnung auf eine der vielen kommenden Unterkünfte.


Wir verlassen die Stadt und müssen mit jedem weiteren Kilometer einsehen, dass die Herbergsdichte in Galizien nicht der entspricht wie davor. 


Und so kommen wir nach Ribadiso und zu unserer mit ca. 34 Kilometern längsten Etappe des Weges. 

Die Herberge ist malerisch an einem Flüsschen gelegen und auch kein Neubau, sondern eine Herberge mit Tradition.

Mittlerweile finden wir auch die Hinweise des Pilgerführers bestätigt - es gibt zwar in den galizischen Herbergen gut ausgestattete Küchen, allerdings fehlen sämtliche notwendigen Küchenutensilien! Womöglich hat man nach Fertigstellung sehr schnell festgestellt, dass die Betriebskosten in die Höhe schnellen und auch die Pilger nicht so pfleglich damit umgehen, wie sie es im eigenen Heim tun würden. Diebstahl ist sicher keine Option - welcher Pilger belastet sich schon mit Topf und Pfanne auf seinem Weg?

Um zu essen müssen wir also etwa 200 Meter den Weg wieder zurück und auch noch den Berg wieder hinauf. Dafür bekommen wir ein köstliches Pilgermenü, zu welchem eine unglaublich leckere Linsensuppe gehört.

Diese ist so gut, dass ich einen, und noch einen weiteren Nachschlag ordere, ungläubig von der Wirtin betrachtet, die mir anschließend unaufgefordert ihr Rezept in die Hand drückt.


In Pedrouzo werden wir die letzte Nacht verbringen und treffen auch hier wieder auf bereits bekannte Gesichter. Wicky, eine Holländerin, ist ebenso hier Schlafgast wie zwei aufgeweckte Österreicherinnen und eine Brasilianerin.

Diese Herberge fordert uns noch einmal alles ab und ist mit Abstand jene, in welcher es die größte Überwindung kostet, sein Bett für die Nacht zu richten.

In den drei kleinen und offenen Schlafräumen mit jeweils 4 Doppelstockbetten geht es recht eng zu und Platz zur Ablage persönlicher Dinge gibt es kaum. 
Das könnte aber auch Prinzip sein, kann man seine Utensilien doch nur auf dem Bett ausbreiten - Chaos zwischen den Pilgern lässt sich auf diese Weise vermeiden.
Die gefühlte Sauberkeit der Herberge macht uns etwas zu schaffen, vielleicht ist aber auch der Zeitpunkt erreicht, wo man dem Körper einfach mal wieder etwas mehr Intimsphäre verpassen sollte - ein Raum, ein Bett mit Bettwäsche und eine Dusche für sich ganz allein? 

Aber wie bereits festgestellt, eine Nacht geht immer! 

Der Weg bis Monte do Gozo ist einfach zu weit. Dieser entspricht in etwa einer weiteren Etappenlänge.
Die Idee ist, in Monte do Gozo (Freudenberg) die letzte Nacht zu verbringen, um dann nach den letzten 5 Kilometern, entspannt und mit Freude in Santiago einzulaufen.

Wir passieren am letzten Tag unserer Pilgerschaft den Flughafen und erreichen dann Monte do Gozo. Natürlich sind wir recht zeitig am Freudenberg. Dies allein ist aber nicht der Grund, den Weg in die Stadt fortzusetzen - es ist keine Herberge, es ist ein Lager. 
Links und Rechts vom zentralen, den Berg hinabführenden Weg stehen flache Gebäude in welchen sich nicht nur Mehrbettzimmer befinden. 
Der ganze Komplex gibt etwa 400 Pilgern eine Unterkunft - keine schöne Vorstellung!

Also laufen wir weiter und erreichen Santiago. Mit Passieren der Stadtgrenze kommen wir noch in den Genuss eines kräftigen Regenschauers - der erste im so feuchten Galizien!
Ich sehe es als Hinweis auf meine 'Blasphemie' - habe ich doch immer im Spaß behauptet, zum 'Heiligen Komposthaufen' zu laufen. Der Regen sollte mich daran erinnern, dass es doch höhere Mächte zu geben scheint. 
Dabei ist es ja vielleicht garnicht so weit hergeholt, bedeutet 'Compostela' doch 'Sternenfeld'.

Nun ja, an höhere Mächte habe ich in diesem Moment jedenfalls nur kurz denken müssen, aber es kommt noch der Zeitpunkt, an welchem ich ernsthaft daran hätte glauben können.

Aber erst einmal ist die Kathedrale der Stadt das Ziel.  Wenn man jedoch annimmt, dass der geschundene Pilger auf diese geradewegs und mit dem heeren Gefühl, es endlich geschafft zu haben, zu steuern kann, so wird man von der Tatsache enttäuscht. 
Von der Kirche ist beim Gang durch die Straßen und Gassen kaum etwas zu erblicken. Im Gegenteil, man muss sehr aufpassen, dass man auf den letzten Metern nicht doch noch die Wegzeichen verpasst.

Wenn man dann doch vor dem imposanten Sakralgebäude steht, ist das alles Vergangenheit. Ein unbeschreibliches Gefühl macht sich breit, Glückshormone werden im Sekundentakt ausgeschüttet, überwältigt lässt man mit Blick auf die Kirche den Rucksack vom Körper gleiten und nimmt auf dem Vorplatz Platz. Geschafft!!

Es dauert etwas, bis der Wunsch Oberhand gewinnt, endlich dieses Bauwerk zu betrachten. Es ist unglaublich, bin ich doch in keiner Weise gläubig, aber die Architektur zeigt die vom Erbauer gewünschte Wirkung.


 
Westfassade
Dann wird es Zeit die Kirche zu betreten - der Zeitpunkt ist günstig, es findet eine Pilgermesse statt. Und so befinden sich unter den vielen Besuchern auch viele Pilger, die eindeutig an Rucksack und Garderobe zu erkennen sind.
Leider wird in der Messe der Botafumeiro - der Weihrauchkessel - nicht geschwungen. Das ist sehr schade, kommt aber nur noch zu bestimmten kirchlichen Feiertagen vor oder wenn sich zahlungskräftige Gläubige dieses Erlebnis erkaufen.
Man kann sich sicherlich damit trösten, dass die Notwendigkeit, aus der diese Tradition wohl erwachsen sein mag, nicht mehr gegeben ist. 
Heute können sich die Pilger auf ihrem Weg regelässig waschen und auch ihre Garderobe reinigen, weswegen die strengen Gerüche während der Messe ausbleiben.
Heute ist es einfach nur schön anzusehen und ein sicher bleibendes Erlebnis, wenn der Kessel durch das Kirchenschiff geschwungen wird.

Mit Miriam, einer jungen Ärztin aus Deutschland, begeben wir uns anschließend auf Zimmersuche, wobei uns ihre Spanischkenntnisse sehr helfen.
Wir sind uns einig, dass die Zeit der Massenunterkünfte jetzt vorüber ist und ein Hotelzimmer angemessen erscheint.
Wir finden ein kleines Hotel und genießen es sehr, wieder ein Kissen, weiße Bettwäsche und unendlich viel heißes Wasser zur Verfügung zu haben.  
Daheim selbstverständlich, wird es hier als Luxus empfunden, was es genau genommen ja auch ist - bloß wem ist das noch klar, wenn es täglich und ohne Einschränkung zur Verfügung steht?

Der Gang zum Pilgerbüro ist unausweichlich - wir wollen diese Urkunde und stellen uns zu den vielen Wartenden.
Im Büro wird man dann mit der Frage, ob die Pilgerreise aus kirchlichen, spirituellen oder sportiven Gründen erfolgte.
Danach halte ich sie endlich in den Händen - nicht dass es zwingend notwendig wäre, als Nachweis für die gebrachte Leistung steht wohl eher der Pilgerpass, aber die Urkunde in den Händen zu halten, ist eben ein schöner Abschluss.

Obwohl wir noch etwas am Meer ausspannen wollen, lassen wir uns am Tag darauf noch durch die Stadt treiben und genießen deren Angebote wie Restaurants, Cafés, Geschäfte.

Die erste Überraschung, die dieser Tag für uns bereit hält, erwartet uns bereits am Morgen im Hotel. 
Während wir uns über die Möglichkeiten in der Stadt informieren treten zwei bekannte Gesichter aus dem Fahrstuhl - es ist das ältere Ehepaar vom fünften Kontinent.
Und die Freude des Wiedersehens ist auf beiden Seiten!

Am zeitigen Nachmittag treffen wir die Brasilianerin und trinken gemeinsam einen Kaffee. Im Gedränge der quirligen Stadt lässt sich so manch bekanntes Gesicht ausmachen und so dauert es nicht lange, bis wir Dennis und Christopher erspähen. Wir setzen uns zum Bier zusammen und fast minütlich wird die Runde größer. Matthias aus Rostock setzt sich ebenso an unseren Tisch wie auch Wicky aus Holland.
Schnell entsteht der Wunsch auch die anderen lieben Begleiter auf dem Weg noch einmal wieder zu sehen.
Während also der Blick durch die Massen gleitet, öffnet sich die Hoteltür neben dem kleinen Restaurant und heraus tritt Heide.
Die Gedanken dazu beginnen schnell zu rotieren, hatte ich diesen Wunsch doch ganz kurz davor gerade erst geäußert.
Es ist eine schöne Runde, wenn letztlich doch natürlich nicht alle zusammenkommen.
Es wird ein sehr lustiger und auch etwas feuchter Abschluss, denn die meisten beenden an diesem Abend ihren Aufenthalt und müssen wieder zurück in ihr normales Leben.
Aber es gibt noch eine etwas ernüchternde Erkenntnis - stolz wird die Pilgerurkunde herumgezeigt und ich muss erkennen, dass sich meine von jener der anderen unterscheidet.
Ich habe eine Urkunde und keine Compostela in meinem Besitz und es stellt sich auch schnell heraus weshalb - wahrheitsgemäß habe ich den Grund meiner 'Wanderung' als sportiv angegeben.

  
Die Enttäuschung darüber währt nur kurz - ich bin 320 Kilometer gelaufen, hatte ein gute Zeit, wunderbare Begegnungen und dies ist es, was doch eigentlich zählt, oder?

Bevor wir am nächsten Morgen gemeinsam mit Miriam zur Busstation gehen, um an das Ende der Welt zu fahren, nutzen wir die Zeit noch für einen kleinen Abstecher zur Kirche, verbunden mit der Hoffnung, auch noch Paul und Emily zu begegnen. 

Leider treffen wir die beiden nicht, die Überraschung ist umso größer, strebt doch gerade die junge deutsche Familie mit ihren Kindern und dem Karren zur Kathedrale.
Leider bleibt wenig Zeit - wir müssen zum Bus und sie zur Morgenmesse!

Mit dem Bus geht es durch die schöne galizische Landschaft zwischen Santiago und dem Atlantik. In Finisterra erfahren wir, dass die Herberge nur jenen geöffnet wird, die auch diese 80 Kilometer gelaufen sind. Es ist uns recht, haben wir doch unsere Pilgertour mit Santiago auch mental beendet. Finisterra soll Urlaub werden!

Mit Hilfe von Miriam finden wir eine annehmbare Ferienwohnung im Ort und lassen uns einfach durch die nächsten drei Tage treiben.
Ein unbedingtes Muss ist die äußerste Spitze dieser Halbinsel. Am Leuchtturm den Sonnenuntergang zu verfolgen, ist das erklärte Ziel aller Pilger.
In der aufkommenden Dunkelheit sind überall kleinere Gruppen auszumachen, die gebannt um kleine Lagerfeuer sitzen. Sie folgen der Tradition, dass hier der wahre Abschluss und auch Neubeginn stattfindet, wenn man ein persönliches Teil aus seinem Gepäck dem Feuer 'geopfert' wird.

Viele weitere Möglichkeiten gibt es kaum in diesem touristisch sehr erschlossenem Ort.

Ein Picknick am Strand ist noch ein Höhepunkt und dann möchten wir unbedingt noch am Tage zum Leuchtturm laufen. Dafür nehmen wir nicht die Straße, sondern laufen auf schmalen Pfaden entlang der Westküste.
Bald nehmen wir eine Gestalt war, die uns entgegenkommt und wir trauen unseren Augen nicht - es ist Tilo, dem wir in La Faba begegnen durften.
In Santiago, im Ort Finisterra und auch im Bus - wäre dies alles wenig verwunderlich gewesen - aber hier, abseits von allem?
Tilo ist die gesamte Strecke gelaufen und ist nun auf dem Weg zurück - sein Bus geht noch an diesem Nachmittag und wir verabschieden uns herzlich.

dann stehen wir bei herrlichstem Wetter am Leuchtturm und der Blick schweift über die schiere Unendlichkeit des Atlantiks. Kein Wunder, dass man diesem Flecken als das Ende der Welt benannt hat. Wendet man sich doch und dreht dem Wasser den Rücken, so ist es der Beginn der Welt, ein Anfang, ein Neustart ....

Die Zeit ist zu kurz und der Urlaub neigt sich dem Ende. Etwas wehmütig stehen wir an der Bushaltestelle, um nach Santiago zu fahren.
Es ist nicht zu beschreiben, als aus diesem Ariane steigt. Jetzt fehlen uns wirklich nur noch Emily und Paul! Das Wiedersehen mit diesen beiden bleibt uns leider verwehrt. Auch der Besuch der Kathedrale am Tage unserer Abreise, ändert daran nichts.
Es ist ein seltsames Gefühl, sind es doch die beiden einzigen Menschen, die wir unterwegs bewusst bei einem Abschied fotografiert haben!  

Unter dem Eindruck der vielen Begegnungen und Erlebnisse und der sich breitmachenden Wehmut schaue ich aus dem Flugzeug auf die spanische Landschaft und wenn es auch schier unmöglich ist, so wünsche ich mir in diesem Moment, diesen Jakobsweg einmal in der gesamten Distanz, von Saint-Jean-Pied-de-Port im Süden Frankreichs bis nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens laufen zu können.  



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